Donnerstag, 5. Juni 2008

John Cage hatte wieder mal recht...

Looplab / Matze Schmidt "Balkon Elektrique / Electrischer Balcon" (1997, C-60 N0Ground/schweinehundtapes)

"Balkon Elektrique" ist ein 30 minütiges Ambient-Stück meines elektroakustischen Projektes Looplab.
Es ist eine Collage aus Sounds und Geräuschen, die direkt vom Balkon meiner damaligen Wohnung im 13. Stock eines Offenbacher Hochhauses aufgenommen wurden, während ich drinnen im Heimstudio live ein Stück mit Midi-Instrumenten (und Samples hängengebliebener Debussy-CDs) improvisierte. Das fröhliche Kindergeschrei stammt vom Kinderspielplatz, der sich 13 Stockwerke unter dem Balkon befand. Die 5 Hochhäuser, die ihn einkreisen, wirkten dabei wie ein überdimensionales, natürliches Hallgerät. No Delay was used!

1997 wurde "Balkon Elektrique" zusammen mit dem Sprechtext "Electrischer Balcon" von Matze Schmidt in einer seeehr limitierten Auflage auf Schmidt's damaligen N0Ground-Label (noch in Kassel) veröffentlicht. Dieses - vom Autor selbst gelesene - Essay formuliert viel zu gut, worum es eigentlich ging, als daß ich's jetzt nochmal neu verfassen wollte. Ich zitiere deshalb mal zwei Absätze lang Herrn Schmidt:

" Ein Elektrischer Balkon ist das Pendant zu Club und Disco, aber, und das ist der entscheidende Unterschied, er ist immateriell, potentiell nomadisch (...). Vom Wohnungsinneren der geschachtelten Räumlichkeiten betritt man den offenen Vorbau, der aus dem Stockwerk der großen Schachtel (Gebäude, Mietshaus) herausragt und über der Straße hängt. Quasi eine Schnittstelle der sog. Privatsphäre zum sog. Öffentlichen Raum, ein begehbares "Fenster zur Welt", ein halböffentlicher Raum, aus dem man sich wieder in die 4-Wände zurückbewegt. Das Heimstudio befindet sich in der Nähe der Elektrik, die Beschallung von außen wird gemein als Lärmpegel aufgefaßt, das Drinnen des privaten Musikspiels ist die Abgrenzung zum Außermusikalischen, die Beschallung innen ermöglicht die Selektion von Musikalischer Erfahrung, "um sich" mit Monitorboxen oder Kopfhörern "gegen den Ansturm der Töne und Geräusche des täglichen Lebens zu schützen" (John Cage in Dibelius 211). Die berühmte Cagesche Anekdote von den New Yorker Straßengeräuschen, die er, ohne dabei zusätzlich noch durchstrukturierte (determinierte) Musik aus der Konserve abrufen zu müssen, im soundsovielten oberen Stockwerk als ästhetisch Tönendes, eben als potentielle Musik, bewertet (totale Indetermination), übernimmt die Patenschaft für die Entscheidung, eine "atmoaufnahme von unsrem balkon auf den 13 stöcke tieferliegenden spielplatz inklussive flug- & straßenlärm" (Torsten Kauke von LOOPLAB) zu verwenden. Heim und Musik - Außen und Lärm.

Zunächst handelt es sich um die Bearbeitung von 'synthetischen' und 'realen' Klängen. (...) Determinierung von Außermusikalischem zu Musik, parallelisiert mit innermusikalischer Musik. Beide gemeinhin als getrennt aufgefaßte Klanguniversen ziehen eine Linie der Produktivität: Sounds herstellen, ordnen, verwandeln, synchronisieren. Auch die konkreten Klänge mußten qua Bandaufzeichung erst hergestellt werden, konkrete Klänge bestehen demnach aus Selektion, der Ausrichtung und der Frequenzleistung des Mikrophons, der Länge der Aufnahme, der Wahl der Location usw. Konkret ist die Aufnahme, der Take. Das Außermusikalische definiert das Musikalische und umgekehrt. (...) Komponieren hieße also nicht projektiver Zusammenbau, sondern abgespeichertes Modellieren." (aus: Matze Schmidt " Electrischer Balcon", 1997)

Download : "Balkon Elektrique / Electrischer Balcon":
Mediafire

Balkon Elektrique - Der Film:

Im Juni 1997 wurde die Kassette während der "documenta X"-Betriebsamkeit in Kassel präsentiert. Zwar nicht direkt von Matze Schmidt's Balkon herab, wie ursprünglich angedacht, sondern in einer Kasseler S-Bahn Unterführung, mit aufgestelltem Kassettenrekorder (aber ohne Hut) - aber Hauptsache gemacht, nicht wahr? Ich habe die Aktion damals gefilmt, aber - bis heute - nie etwas mit dem Material gemacht. Anlässlich dieses posts (und weil die Szenen in 11 Jahren ja nicht aktueller aber - wie wir - immer älter werden) gibt es endlich auch diese frisch fertig geschnittene Dokumentation zum Thema zu gucken:

"Balkon Elektrique 1997" - Dokumentation von T. Kauke



Wegen des Films gibt's hier mal keinen Extra-Audioplayer, wer nur die Musik hörn will, scrollt das youtube-Fenster einfach weg, so einfach kann das Leben sein!

1 Kommentar:

mike-floyd hat gesagt…

Hallo Torstn!

Vielen Dank für Deinen Comment. Da ich nicht weiß, ob Du meine Antwort gelesen hast, hier noch mal in voller Länge:

You are right!
Wir haben tatsächlich mal ein gemeinsames Konzert im Negativ, FfM, gehabt. Das müsste entweder am 24.07.94 oder aber am 05.02.95 gewesen sein (wie meine Unterlagen verraten). Zu meiner Schande muss ich allerdings gestehen, dass ich keinerlei Erinnerung an euren Auftritt mehr habe, ich kann mich aber erinnern, DASS ihr gespielt habt – oder zumindest angekündigt wart –, und vermutlich hat es mir auch ganz gut gefallen (denn sonst wärt ihr mir bestimmt in Erinnerung geblieben...).

Deine(n) blog(s) finde ich sehr cool. Habe dich unter "Friends" verlinkt. Insbesondere gefällt mir der "Verkehrsinsel-Film". Habe früher ähnlichen Blödsinn mit Super-8 und Video gedreht... Und habe diverse Filmchen im Offenen Kanal in Mainz ausstrahlen lassen...
Was Hanau angeht: Dazu habe ich allerdings keinen Bezug..

Habe die DREAMCOLOUR extra für dich (und andere User mit download-Problemen mit easyshare) noch mal alternativ hochgeladen. Viel Spaß!
Finde easyshare eigentlich ganz gut. Die meisten scheinen damit keine Probleme zu haben. Mediafire mag ich nicht, weil die Download-Zeiten oft irre lange sind (z. B. für die eine Concorde über 1,5 Stunden!).
Werde auf deinen Vorschlag gerne zurückkommen, mir MME und CONCORDE mal anhören, und wenn's mir gefällt – dein Einverständnis vorausgesetzt – irgendwann hier in der nahen Zukunft posten.

Habe die eine CONCORDE inzwischen bei mir geposted. Vielen Dank für Dein Interesse.

Liebe Grüße, Mike