Montag, 20. Februar 2012

Zurück in die Gegenwart

Seit Wochen befinde ich mich bereits auf archäologischer Mission in den tieferen Schichten meines tape-Archivs und digitalisiere Stunde um Stunde obskuren und/oder hochmusikalischen Kram, der mir in den letzten 30 Jahren auf's Magnetband geraten ist. Auf diesem blog hier gibt's seit Monaten nur jahrzehntealtes historisches Material aus einem früheren Jahrtausend... ganz klar, es wird wieder mal höchste Zeit für einen Realitätscheck auf unpop! 

Sollte der Eindruck aufgekommen sein, hier berichten verbrauchte Männer über 40 mit wehmütigen Blick zurück aus der Zeit, als sie noch interessante Ideen hatten, so wird es aber höchste Zeit, diesen Eindruck zu korrigieren. Auch wenn die Altersangabe bei manchen der hier vorgestellten Herren sogar stimmen mag: die machen heute trotzdem noch genau den gleichen Scheiss wie vor 25 Jahren - nur eben viel besser/ eindrucksvoller als damals im 20.Jahrhundert!


Deshalb nun: Popnews aus der unpop-Welt!!
Mit alten und neuen Bekannten, die unermüdlich weiter an ihrer Vision von Pop basteln:

1. Sa Sa!

Wie z.B. der alte Tausendsassa ("Tausendsassa, in Österreich umgangssprachlich auch Wunderfuzzi, ist eine Bezeichnung für eine Person, die sich durch zahlreiche Begabungen auszeichnet.", Wikipedia) und Superstolk-Bandkollege Herrjoergritter! Denn der hat neulich kurzerhand ein Album mit französischen Chansons gemacht, wie es frankophiler nicht sein könnte...
Out now: die neue Maurice Jacques!
Unter dem Pseudonym Maurice Jacques (basierend auf seine Filmrolle im preisgekrönten Kurzfilm "Jacques et Cornel", siehe hier ) legt Ritter eine Sammlung vermeintlich legendärer Aufnahmen eines großen Chansoniers vor, "nahezu sämtlich vergriffen, unveröffentlicht, in kleinsten Liebhaberauflagen hergestellt und durch unsachgemäße Lagerung und fahrlässigen Umgang mit Chemikalien bzw. "Fromage de la belle france" zerstört". Unglaubliche und unglaublich schöne Kleinode aus einem musikalischen Genre, das nun bestimmt niemand so ohne weiteres von HJR erwartet hätte!





Schön an dem Album: es kann auch als nicht-filmische Fortsetzung des "Jacques et Cornel" Films verstanden werden - auf seinem Seepferdefahrgästeshowsagt-Blog erzählt Ritter ausführlich, wie es - unmittelbar nach der Handlung des Films - zu diesen Aufnahmen gekommen ist!  Lies es hier!

1. "bone le vere de jure di trick" (Entstehungsjahr unbekannt)
2. "concierge" (1970, Privatpressung)
3. "CORNELE" (radio france live 1973)
4. "Catherine" (1971, Testpressung f. unveröffentlichte Single, A-Seite)
5. "le came" (1971, Testpressung f. unveröffentlichte Single, B-Seite)
6. "maurice jaques - les jarre du mere _LIVE_1972" (Amateuraufnahme)
7. "prtit pury" Privataufnahme, Entstehungsjahr unbekannt)




Völlig unnötig zu erwähnen, dass der Künstler eigentlich gar kein Französisch spricht (zweite Fremdsprache in der Schule: Latein!), denn von Tonfall und Atmosphäre klingen diese Chanson-Perlen französischer als der Franzos'  selbst und haben auf jeden Fall mehr von Gefühl, Geist und Kultur des europäischen Nachbarlandes verstanden und aufgesogen als 100 Jahre bilinguales Fernsehen á la Arte oder ein deutsches Schulsystem zu vermitteln jemals in der Lage wären.  "Vive la France" ist dann auch das erste, was einem beim Anhören dieses dadaistischen Meisterwerkes automatisch durch den Sinn geht! Das komplette Album könnt ihr bei Bandcamp hören (kauft das doch mal, ihr werdet sehen, danach fühlt ihr euch besser!).

Jacques et Cornel damals, in besseren Zeiten.


Bleibt nur zu hoffen, dass wir auch den Film - auf youtube für die Öffentlchkeit gesperrt, weil der Soundtrack etwas unautorisierte Jacques Brel-Musik enthält - bald wieder sehen dürfen! Das Gerücht, eine neu bearbeitete HD-Version des Streifens solle demnächst bei Vimeo hochgeladen werden, hält sich jedenfalls hartnäckig!


2. He she it das Z muss mit
Ebenfalls wieder hyperaktiv ist unpop-Lieblingspopstar Daniel Zero aus Frankfurt am Main, dessen Karriere ja schon seit einiger Zeit von unpop verfolgt wird (hier oder hier).
Mit seinem diese Woche neu erscheinenden Album "He She It" übertrifft er sich nun richtiggehend selbst - ich habe es schon gehört und kann es fast immer noch nicht glauben, daß das alles komplett im Alleingang, nach dem guten alten, ewig währenden DIY-Prinzip komponiert, produziert und gestaltet wurde.

Apropos gestaltet: die 250-er Auflage der neuen CD erscheint in selbergemachten Hüllen, die aus echten alten LP-Cover handgeschnitten wurden - jedes Stück ein Unikat, jedes Exemplar ein Popverweis im Metakontext. Ein Schmuckstück im CD Schrank ohnehin!

Ab Ende Februar 2012: Die neue Daniel Zero


Die Musik der neuen Daniel Zero CD klingt alles andere als "homemade" - sondern nach einer ernsthaften und aufwändigen Popproduktion, hinter der gewöhnlich dicke Konzerne mit noch dickeren Brieftaschen stehen. Nix mit "charmanter Schlafzimmerpop" oder so, das hier kann - und MUSS - sorgenlos in internationalen Tanzhallen gespielt werden oder auf kommerziellen Radiosendern, denn hier ist Musik, die von Sound, Ästhetik und Tanzbarkeit alles hat, was der Durchschnitts-Chart-Müll auch auffährt, nur dass hier statt möglicher Verkaufszahlen und Marktchancen hauptsächlich Leidenschaft und Liebe zur Musik die Haupt-Antriebskräfte sind.

Und das hört man auf jedem einzelnen Track heraus! Es ist ein mittelschwerer Skandal, liebe junge innovative Musiklabels überall auf der Welt, dass sich immer noch niemand dazu entschließen konnte, das hohe Potential dieses aufstrebenden Solokünstlers zu fördern und zu verbreiten. Gut also, dass Daniel Zero's Musik weiterhin von besagtem Punk-Geist angetrieben wird, der vereinfacht formuliert besagt: wenn keiner diese Qualität begreifen will, muss er es halt selber machen!!

Die sehenswerten Videoclips - produziert von Vollnerds aus den verschiedensten Ecken der endlosen Internet-Community - sind ebenfalls ein, zwei oder eintausend Hingucker wert, wie etwa die Kaskade von 1000 fliegenden Automobilen (aufgezeichnet im Computerspiel "Trackmania 2") im  "Peste of Nature" Video (ein Track von der neuen CD):




Mehr krasse Daniel Z-Videos, Exklussivtracks & anderer gossip findet sich bei Daniel Zero zu Hause, unbedingt mal reinclicken!)




3. Die Situation ist Matz aber nicht ernst
Ein ähnlich interressantes und spannendes One-Man-Konzept verfolgt auch der neue Offenbacher Elektro-Punk-Shooting Star Matz Ernst,dessen Debütauftritt im Dezember 2011 im Waggon Offenbach sicher vielen der damals Anwesenden (mir auf jeden Fall) in lebhafter Erinnerung geblieben ist.
Da hinter Matz Ernst niemand anderes als das Offenbacher Rap-Urgesteins Sägaflex steht (alles über Sägaflex hier), kommen Freunde gut gemachter deutscher Texte voller Wortspiele, Semantikdreher und ungewöhnlicher Geschichten voll auf ihre Kosten.
Als Sägaflex reimte er solche Textmonster bereits in den Neunzigern mit einer Intensivität, dass sich bei konzentriertem Zuhören leicht die eigene Großhirnrinde in Brand setzen kann - wo aber Sägaflex sich der üblichen HipHop Mitteln aus funky Grooves und Negersamples bedient, unterlegt Matz Ernst nun seine Texte mit Elektro- und Postpunksounds, die ihren Ursprung meist in den guten alten New Wave Zeiten der Achtziger Jahre haben.

Matz Ernst meint es auch so!
"MATZ ERNST ist futuristische Vergangenheitsbewältigung und persönliches Anliegen. Die Musik umarmt Post Punk, Prog Rock, Hip Hop und Elektronik in all ihren Darreichungsformen und zelebriert Slogan und Pose, ohne sich um die Folgen zu scheren."

Gutes Konzept, denn so kriegt er nun ALLE Kids zwischen 15-55, also auch die, die immer aus Prinzip mit der black music nix zu tun haben wollten, aber ihre Musik gerne mit Inhalt serviert bekommen. Und wer ihn als DJ Baron Samedi kennt  - z.B. jeden ersten Samstag im Monat im Waggon Offenbach  - weiss ja bereits, dass seine musikalische Fachkenntniss jede vermeintliche Abgrenzung zwischen den Musikgenres im Quantensprung hinter sich lassen kann. Und also warum nicht auf allen Hochzeiten tanzen (a.k.a. auflegen), wenn man das kann?


Im direkten Vergleich hier Matz Ernst vs. Sägaflex:


Rough Mix von Matz Ernst's demnächst erscheinenden ZINEDINE SUDAN-EP


Sehr swagdienlich: die erste semi-ofizielle WAGGON-Hymne!



4. Der Weg ist die Krankheit und die Krankheit ist das Ziel
Evil!
Weil's so schön ist, hier nocheinmal Herrjoergritter! Bzw. seine sagenumwobene Punk Band Siebentausend Arschgeigen, die ihrem Motto "Tun, was getan werden muss. auch ohne Gitarre spielen, singen oder schlagzeugen zu können" diesmal aber nicht entsprechen kann. Durch Unterstützung diverser Alt- und Mitteljungpunker an den Saiteninstrumenten (Bass: ich, Gitarre: Reik "Hasenbruder" Weckwerth) ist der neuste Track aus der Arschgeigenschmiede nämlich ein richtiger Punk-Hit mit hohem Mitgröhl- und Pogofaktor geworden. Mal ganz abgesehen von dem Identifikationsmodell, das uns die Siebentausend Arschgeigen da schenken - denn wir alle haben ein bisschen Uwe in uns!



5. Historisieren und historisieren lassen!
Schon seit einigen Jahren bin ich begeisterter Leser der sehr liebevoll und  sehr detailverliebt geschriebenen Musik-Buchreihe "Edition Blechluft", die selbst das Folgende über sich zu sagen hat: "Die Buchreihe Edition Blechluft beschäftigt sich mit Musikkontexten und Kulturaspekten. In Interviews, Artikeln und Kurzbiografien werden Bands, Kassetten, Platten, Instrumente, Software, Musikrichtungen, Szenen/Städte und Musikabspielgeräte vorgestellt."

Für die neuste Ausgabe "Lass uns über Musikkontexte reden" (Edition Blechluft 6) unterhielt sich der Herausgeber Günther Sahler mit den verschiedensten Musikern und Szenemenschen des wie auch immer definierten deutschen Undergrounds. Neben u.a. Asmus Tietchens, Tom Scheutzlich (Mutter), Markus Detmer (Staubgold-Label), Thomas Schwebel (Syph, Mittagspause, Fehlfarben) und Hans Castrup (Poison Dwarfs) ist einer der Interviewpartner: Torstn Kauke. Ich selbst also.
Und wer sich gerne in die Plaudereien reinliest, die ich hier auf dem unpop-blog zu verbreiten habe, den könnte vielleicht auch die neue Blechluft interessieren, denn das Interview mit mir ist soetwas wie die Prequel zu den Texten hier auf dem unpop-blog. Erstmals berichte ich von den wirklichen Anfängen meiner "Karriere" - aus Zeiten, als mein Bruder und ich noch die kompletten Beatles in Hamburg waren, von ersten selbstgegründeten Bands und Projekten wie Radowu oder Glück Gluck Glück, vom Aufstieg und Niedergang vom KIX Imperium und so manche Zote mehr - bis hin zur aktuellen Superstolk-Besetzung mit Herrn Ritter und meiner Beteiligung am Waggon am Kulturgleis in Offenbach. Obwohl ich jede Ausgabe der Edition Blechluft uneingeschränkt empfehlen kann, ist es doch etwas besonderes mit dieser neuen Ausgabe. Anstatt nämlich einfach alle Einzelinterviews schön chronologisch nacheinander abzudrucken, hat Sahler die Textblöcke aller geführten Interviews nach ihrem Sinn und Inhalt zusammengefügt - daraus ergibt sich ein buntes Patchwork der unterschiedlichsten Erinnerungen an die Achtziger, Neunziger und Nuller Jahre, das erstens einen wunderbar kurzweiligen Lesefluss ermöglicht und zweitens die Summe der Einzelteile zu ihrem berühmten MEHR verhilft. Irgendwie zu einer Meta-Biografie des Undergroundkünstlers am Ende des letzten Jahrtausend und Anfang des neuen. Ich bin sehr stolz darauf, eines der Einzelteile sein zu dürfen (und sehr vergnügt darüber, daß Sahler selbst meine größten Schwafelleien ohne Kürzung übernommen hat... Okay - richtig schwafeln tu ich auch gar nicht, aber die übliche Plaudertaschenhaftigkeit meiner blogposts findet sich auch in meinen Interviewpassagen wieder!)

Bücher sind was für die Ewigkeit und aus Papier. Deshalb: besser bestellen bevor vergriffen.Checkt den Günther Sahler Verlag: hier!



6. Konsumprodukt
Über Flug 8, dem elektronischen One-Man-Projekt meines Microgramma-Kollegen Daniel Herrmann wurde hier trotz regelmässiger Veröffentlichungen länger schon nichts geschrieben, weil das gefälligst die Musikpresse, die dafür bezahlt wird, übernehmen soll...
Herrmann rockt sie alle!

Aber hey: das 2. Flug 8 Album erscheint dieses Frühjahr und ich habe es schon hier und garantiere euch hiermit, daß es großartig ist und eine deutliche Weiterentwicklung besonders auch auf textlicher Ebene mitbringt!! Um auf den Geschmack zu kommen, kann man schon mal in diesen sehr spannenden und unterhaltsamen Livemitschnitt von der letztjährigen Flug 8 Herbsttour (zusammen mit CONSOLE) reinhören. Das ist nicht Techno, das ist nicht Rock, das ist nicht House und das ist nicht Punk - und gerade deshalb ist es das alles doch. Ausserhalb aller Kategorien, aber hoch oben über dem Rest: Herrmanns Lieblingsaufenthaltsort!


1 Kommentar:

Raul C.O. Kauke hat gesagt…

pour monsieur Jaques: cette une reactor atomique! Oui oui.